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Im Spiegel der Aufklärung

von Helmut Barthel


Geheimnisumwittert und nicht selten aufs erbärmlichste mystifiziert waren vor vielen Jahren die sogenannten "Inneren Kampfkünste" den Enthusiasten des chinesischen Boxens noch ein Buch mit sieben Siegeln. Vornehmlich wurden solche als "Innere Schulen" bezeichnete Stilrichtungen dem Taijiquan, dem Xingyiquan und dem Baguazhang zugerechnet.

In Anbetracht dieser damals bereits nicht selten esoterisch befrachteten "Internal Arts" wurde schon mit Bedacht in der ersten Ausgabe der Fachzeitschrift für Kampfkünste "Martial Arts Magazin" vom November 1982 das folgende satirische Cartoon veröffentlicht:

Graphik: © MA-Verlag

Satirisches Cartoon zum Thema "Innere Stile"
Graphik: © MA-Verlag


In der November/Dezember-Ausgabe von 1986 des gleichen Magazins hat man dem 85jährigen, damals ältesten Vertreter des Taiji Wu-Stils, Herrn Ma Yueh-Liang, unter anderem auch die Frage nach dem "Inneren Boxen" vorgelegt. Zu Beginn unserer Ausführungen möchten wir den dieses Thema betreffenden Gesprächsteil aus dem Gesamtinterview mit Herrn Ma Yueh-Liang zitieren:

MARTIAL ARTS: Tai Chi Chuan wird im allgemeinen zu den inneren Stilen gezählt und wahrscheinlich auch der Wu-Stil. Worin liegt aus Ihrer Sicht der Unterschied zu äußeren Stilen?

MA YUEH-LIANG: Es gibt verschiedene Definitionen des Nei Chia und des Wai Chia. Im allgemeinen versteht man es so, dass Shaolin immer der äußere Stil ist und Wu Tang immer der innere. Es gibt allerdings viele Leute, die sind anderer Meinung, die sagen, dass 'Wai' mehr den kämpferischen Aspekt betont, also Kung, Kung von Kungfu.

MARTIAL ARTS: Arbeit, Kraft, schwer...

MA YUEH-LIANG: Ja, und beim Nei Chia trainiert man das Ch´i. Unsere Ansicht zu diesen Bedeutungen ist wieder anders. Aus unserer Sicht bedeutet Nei Chia, dass innerhalb der Familie, also intern trainiert wird und nicht öffentlich. Und Wai Chia bedeutet, dass vor der Tür, also außerhalb des Hauses trainiert wird, draußen, wo jeder es sehen kann. Auch unser Tai Chi-Training kannte vor 70 Jahren noch niemand. Seit 1914 ist Taijiquan aus der Tür, also in die Öffentlichkeit gegangen.

MARTIAL ARTS: Dann wäre es demnach ein äußerer Stil geworden?

MA YUEH-LIANG: Dass es veröffentlicht wurde heißt noch nicht, dass es ein äußerer Stil geworden ist. Obwohl auch unser Tai Chi Chuan 'aus dem Haus gegangen' ist, hatten wir bis vor sechs Jahren, also bis 1982, eine Form, die wir nie nach außen zeigten. Das ist der Unterschied zwischen den Begriffen 'Nei' und 'Wai'."

Foto: © MA-Verlag

Ma Yueh-Liang beim Interview
Foto: © MA-Verlag


Den deutlichen Worten des Großmeisters zur Frage des "Inneren Boxens" gibt es eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Gleichwohl wollen wir an dieser Stelle auf einen kurzen Blick in zwei entsprechende Wörterbücher nicht verzichten:

1. Aus dem Wörterbuch von Rüdenberg-Stange:
néi   nèi
innerhalb, binnen, innen, in, inner, einschließlich; (Ehefrau; Kaiserpalast)
jia   jia
Familie; Heim, Heimat, Haus; Verwandte, Sippe; Klasse (von Menschen; aus einer Klasse) (Beruf),
[bildet Hauptwörter auf -er]; Geschäftshaus; zahm; [Familienname]
quan   quán
Faust; boxen; nur faustgroß, klein


2. Aus dem Wörterbuch von Prof. Dr. Ulrich Unger:
néi   nèi
das Innere; innen, drinnen, in, (innerhalb von)
jia   jia
Haus, Familie; Schule (Schulrichtung)
quan   quán
die Hand ballen, eine Faust machen; Faust


Der Umstand, dass, wie auch Herr Ma Yueh-Liang es bereits feststellte, beim Neijiaquan erstrangig das Qi gefördert und die Kontrolle darüber trainiert und damit die gesamtkörperliche Integrität und Gesundheit besonders angesprochen wird, mag mit Blick auf den Begriff "Inneres..." hierzulande zu einem nicht geringen Spektrum an Missverständnissen geführt haben.

Als wir 1980 das bereits seit sieben Jahren unter der Bezeichnung "Inneres Boxen" praktizierte Tan Tien Tschüan aus der Taufe hoben, indem wir uns der Hilfestellung eines anerkannten Experten für klassische chinesische Schrift versicherten, war die Diskussion um sogenannte "innere und äußere" Stile in Deutschland bei weitem noch nicht so entwickelt wie heute.

Herr Prof. Dr. Liu Mau-Tsai zumindestens, der uns bei der chinesischen Benennung unseres "Inneren Boxens" behilflich war, hat unser Lehr- und Arbeitssystem ganz absichtlich an der Neijia-Zuordnung vorbei einfach als "Tan Tien Tschüan" bezeichnet, nachdem er sich mit großer Aufmerksamkeit den Erläuterungen zur Theorie und Praxis unseres Kampfkunststils zugewandt hatte.

Zur groben und bildübersetzungsgestützten Bedeutung des Tan Tien Tschüan als "Zinnoberrotes Feldboxen" wurde in der Vergangenheit in anderen Publikationen genügend und dezidiert Stellung genommen, so daß es an dieser Stelle nicht notwendig erscheint, noch einmal auf das Motiv und den Umstand der chinesischen Umbenennung unseres bis dahin als "Inneres Boxen" bezeichneten Stils bzw. die tieferen Gründe dafür abermals einzugehen. Es ist wichtig, dass das Tan Tien Tschüan damals wie heute mit dem Anspruch, "Inneres Boxen" zu praktizieren, ganz sicher nicht die Ausübung und Verwertung seiner Lehr- und Trainingsmethoden innerhalb einer Familie oder sonstwie geschlossener sozialer Verbindungen zum Ausdruck bringen wollte, sondern schon einen Unterscheidungsverweis hinsichtlich der Trainingsmethoden und ihrer Inhalte im Verhältnis zu konventionellen Schulen und Stilrichtungen bereits im Namen der eigenen Schule festzuschreiben bemüht war. Mag auch die inhaltliche Ausrichtung unseres Boxstils das Ergebnis eines Missverständnisses gewesen sein, so hat sich die Unterscheidung doch bewährt und ist geblieben.

Unter "innen" haben wir zunächst die technische, taktische und strategische Konzentration auf das Erlernen eigenkörperlicher Kontroll- und Bewältigungsoptionen mit allen dazu geeigneten Methoden verstanden. Der Schwerpunkt lag also nie darauf, eine Kampfsituation erfolgreich und den Gegner bzw. Trainingspartner technisch zu beherrschen und gegebenenfalls zu bezwingen, sondern vielmehr darauf, die passiven, außerhalb des unmittelbaren Zugriffs gelegenen Kräfte, Verhältnisse, Aufwände, Widerstände und Wege ausschließlich des eigenen Körpers unter die Kontrolle des eigenen Tuns und der eigenen Absicht zu bringen.

Wir gehen bis heute davon aus, dass die Minimierung von Aufwand, Widerstand und Gegenläufigkeit dem Bemühen, über gezielte Schwünge, unverzichtbare Timings und organisierte Kraftaufwände zu Ergebnissen zu kommen, doch ungleich überlegen ist. Über statische Achsen gelenkte und über Geschwindigkeits- und Gewichtsbeteiligung balancierte und bestimmte Ergebnisse und Effekte ordnen wir deshalb dem äußeren Boxen zu, weil sie über mehr oder weniger raumgreifende Schwünge oder Schwungkombinationen passive bzw. nicht beteiligte Kräfte und Verhältnisse transportieren und bestenfalls über ein geglücktes Timing kompensieren.

Die konsequente Auseinandersetzung im Rahmen sportlich regulierter oder auch regelfreier körperlicher Konfrontationen nimmt als Testprogramm zur Überprüfung des jeweils technischen Entwicklungsstandes im Tan Tien Tschüan einen hervorragenden Platz ein und ist mithin auch ein wesentlicher Bestandteil der Prüfungen. Das hat dem Tan Tien Tschüan sicher nicht zu unrecht im Laufe der Zeit den Ruf, eine stark kampforientierte Schule zu sein, eingetragen.

Dennoch bleibt das Kernstück der Bemühungen des "Inneren Boxens" unserer Schule, die Unwägbarkeiten und Unbotmäßigkeiten des eigenen Körpers, also die Vorherrschaft seiner passiven, physikalischen Eigenschaften in einer Weise auszusteuern, dass er in der Praxis nicht in die Dominanz seiner funktionalen Widersprüchlichkeit zurückfallen muss, als da wären zum Beispiel Schwung und Gegenschwung, Gewicht und Statik, Achsen, Stellungen und Befestigungen, Geschwindigkeiten und Beharrung, Kollisionen und Wuchten.

Die Konzentration auf die in der Reichweite der Eigenkörperlichkeit gelegenen Fragen und Probleme entspräche ungefähr dem Konzept des "Inneren Boxens", wie es im Tan Tien Tschüan praktiziert wird. "Innen" präferiert per Definition Einseitigkeit und führt methodologisch über die stetige Rückbindung zu einer anwachsenden Konzentration der ursprünglichen Fragestellung. Bei der Inanspruchnahme dieser Herangehensweise erhofft sich der Vertreter einer solchen Methode, dass er, verglichen mit konventionellen Strategien, zu wesentlich weitreichenderen und besseren Ergebnissen kommt. Zudem stützt sich das Tan Tien Tschüan speziell bereits seit langer Zeit insbesondere mit seinem Anspruch als "Innerer Boxstil" wesentlich auf die fundamentale und detailgenaue Kritik konventioneller Bewegungskonzepte und sportphysiologischer Modelle.

Abschließend möchte ich allerdings doch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich indessen tief davon überzeugt bin, dass es keine Schule, kein System oder keinen Stil gibt, der sich in seinem Bemühen um Effizienz nicht mehr oder weniger, sei es auf traditionelle oder auf fortgeschrittene Weise, mit offenem Ausgang um dieselben Inhalte bemüht.


5. Dezember 2005

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