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von Helmut Barthel
Bewußt und mit Bedacht hat Helmut Barthel den von ihm seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelten und mit der Gründung eines gleichnamigen Vereins im Jahre 1980 offiziell gewordenen Kampfkunststil mit einem chinesischen Namen belegt, denn Tan Tien Tschüan bedient sich zu nicht geringen Anteilen der Didaktik und der Bewegungsformen chinesischer Boxstile, vornehmlich, wenn auch modifiziert, derer, die schon in frühen Zeiten in unserem Kulturkreis als solche des TCC-Yang-Stils bekannt waren. In Würdigung dieser Tatsache haben sich Vertreter dieser zunächst als "Inneres Boxen" bezeichneten Schule zu ihrer Identifikation in der Öffentlichkeit für eine chinesische Bezeichnung entschieden.
Beim Tan Tien Tschüan nämlich haben wir es mit einer Kampfkunst zu tun, deren Lern- und Lehrformen und der damit verbundene Anspruch auf Ergebnisse tief in den klassischen Grundideen der schwer auslotbaren und weit verzweigten Traditionen des Tai Chi Chuan wurzelt, sich auf der anderen Seite aber in Forschung und Lehre mit größtmöglicher Akribie der Mittel moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse bedient.
Der Name setzt sich aus den Schriftzeichen
(Tan),
(Tien) und
(Tschüan)
zusammen.
Jedem Aktiven ist geläufig, daß der "Tan Tien" in aller Regel als das
Feld ca. 3 Finger breit unterhalb des Bauchnabels im Körper des
Menschen lokalisiert wird. Es heißt auch "das zinnoberrote Feld"
und bedeutet soviel wie "lebendiger Mittelpunkt".
Den "Tan Tien" als diesen vitalen Mittelpunkt zu interpretieren, ist eine von vielen Möglichkeiten, diese Zeichen und ihre Aussagekraft zu benutzen. Ebensogut kann die Verbindung zwischen "tief", "rot" und "Feld" auch "Herz" oder einfach "innen" bedeuten. Im Falle des Tan Tien Tschüan lautet die Übersetzung auch schlicht "inneres Boxen" (Boxen wie in vielen anderen chinesischen Kampfkünsten hergeleitet von der gekrümmten Hand bzw. Faust).
Wie schon am Anfang erwähnt, werden in dieser Kunst Methoden und Techniken sowie entsprechende Effekte verfolgt, die sich fugenlos mit den Ansprüchen und Prinzipien des klassischen Tai Chi Chuan decken. Nur die beiden Umstände, daß es keine chinesische Mutterschule gibt und daß Didaktik und Grundlagen moderner Wissenschaft kritisch und selbstkritisch ihre Anwendung finden, lassen die Deutung, diese Kunst wäre keine traditionelle chinesische Methode, für denjenigen zu, dessen Kriterium für Authentizität von Tradition eine originär im chinesischen Kulturkreis generierte Schule ist.
Mit welcher Konsequenz die klassischen Ansprüche des Tai Chi Chuan allerdings im Tan Tien Tschüan methodisch realisiert und mit welch überraschender Transparenz die Tai-Chi-Chuan-Prinzipien und -Effekte in diesem Stil dem Lernenden und Praktiker zugänglich gemacht werden, wollen wir versuchen, durch die Beschreibung von Basiselementen und technischen Effekten ein wenig zu erläutern. An den Anfang aber möchten wir einen Absatz aus einer klassischen Tai-Chi-Chuan-Abhandlung von Wang Chuang Yueh als Zitat setzen, das ohne weiteres die grundlegende Fragestellung, der ein Schüler des Tan Tien Tschüan sich stellt, definiert:
"Im Boxen gibt es unzählige Schulen. Wie verschieden sie auch sein mögen, alle verlassen sich darauf, daß der Starke das Schwache und das Schnelle das Langsame besiegt. Das aber sind Fähigkeiten, die von natürlicher körperlicher Begabung und Stärke abhängen und nicht gelernt und verfeinert zu werden brauchen. Das Sprichwort: `Eine Kraft von tausend Pfund mit einer auslösenden Kraft von vier Unzen besiegen', zeigt, daß das mit reiner Körperkraft nicht getan werden kann. Und wenn ein alter Mann viele Angreifer bewegt - kann er sich dabei vielleicht auf seine Schnelligkeit verlassen?"
Der Ausgangspunkt des Tan Tien Tschüan ist ausschließlich die Fragestellung des konstitutionell und konditionell benachteiligten Menschen, der aus Alters-, Geschlechts- oder Gesundheitsgründen einer körperlichen Auseinandersetzung selbst bei bestem Bemühen unter Einsatz jener Kräfte (Körpergewicht und Körperstatik), die ein geübter Kampfsportler ebenso wie ein geübter Schläger leicht ins Feld führen können, nichts anderes entgegenzusetzen hat als überlegendes Wissen und Technik. Wissen darf hier nicht als das Repertoire auswendig gelernter Inhalte verstanden werden, sondern schließt in diesem Sinne das Wissen um entsprechende Körperkontrolle und ihre unmittelbare körperliche Anwendung mit ein. Daß dies kein sportlicher, athletischer oder artistischer Weg sein muß, sondern sich Techniken und Methoden bedient, die Faktoren wie Kondition und Konstitution von vornherein zur Nebensache werden lassen, ist das ausgesprochene Ziel des Tan Tien Tschüan. Dies besagt zunächst einmal auch nur, daß es aus der Perspektive des schwachen, alten oder kranken Menschen geradezu zur Notwendigkeit wird, andere Wege zur Entfaltung von Effektivität in der Kampfkunst zu finden als sie gemeinhin üblich und anerkannt sind. Die klassischen Texte des Tai Chi Chuan und die Überlieferungen jeder höheren Entwicklung auch anderer traditioneller chinesischer Kampfkünste weisen eindeutig darauf hin, daß dies zu erreichen das Höchste aller Kunstfertigkeiten sein muß. Es ist also von großer Wichtigkeit, bei der kurzen Betrachtung von Techniken des Tan Tien Tschüan immer im Auge zu behalten, daß vom Standpunkt des auf verschiedene Weise bewegungseingeschränkten Menschen ausgegangen werden muß. Darüber hinaus kann es hier nur um die Zielsetzung des Lernenden und die Vermittlungsweise des Lehrers gehen, da sich die Frage der Effektivität im Kampf wie bei allen anderen Schulen auch nur in solchen Situationen stellt, wie sie eigentlich nicht alltäglich sind und nach Möglichkeit von jedem Menschen, der seine Sinne beisammen hat, vermieden werden müßten. Das bedeutet, daß sogenannte Kämpfe, die im Endeffekt ihre Grenze bei größeren Verletzungen oder gar dem Tod des Gegners haben, im Tan Tien Tschüan ebensowenig wie in anderen Kampfkunststilen als Maßstab benutzt werden können. Damit soll auch gesagt werden, daß begrenzte Schlägereien hier nicht als Kampf angesehen werden.
Als "Inneres Boxen" wird der ganze Stil insbesondere deshalb bezeichnet, weil der Lernende bestrebt ist, nichts anderes zu erreichen, als auf dem Wege verschleißärmster und unaufwendigster funktionaler Bewegung den eigenen Körper in seinen feinsten physiologischen Abläufen unter die Kontrolle seines Willens zu bringen. Dies betrifft anfänglich und für lange Zeit das gesamtkörperlich koordinierte Aussteuern kleinster Muskelbewegungen und damit die direkteste und unaufwendigste Art, die Gelenke zu bewegen. Mit zunehmender Praxis soll erreicht werden, daß jedwede Bewegung irgendeines beliebigen Körperteils bzw. -gliedes immer gesteuert ist von einem leichten koordinierten gleichlaufenden Tonus sämtlicher Körpermuskeln. Auf einer höheren Stufe wird dann noch die Verbindung aller Körperorgane zu funktional gleichgerichteter Energie angestrebt.
Das Resultat sollten derart schlüssige bzw. fugenlose Bewegungsabläufe ohne Schwungräume, Spannungs- und Entspannungsvoraussetzungen sowie Reaktionszeiten sein, daß sich in einer Auseinandersetzung für den Tan-Tien-Tschüan-Techniker ein ununterbrochener Positionsvorteil ergibt. Die zunehmende Kontrolle des eigenen passiven und aktiven Bewegungsapparates sowie der beteiligten Organe kommt einer Kontrolle über den entsprechenden Raum innerhalb des eigenen Körpers gleich. Bei beständigem Wechsel der Positionen und Situationen in einer Auseinandersetzung gibt es jedoch den Unterschied zwischen dem Raum innerhalb und außerhalb des eigenen Körpers praktisch nicht mehr. Einfacher gesagt: Der ununterbrochene Fluß direktester Bewegungsabläufe verschafft dem Praktizierenden gegenüber Bewegungsabläufen, die von Reaktionen, Spannungen und Entspannungen sowie Schwungräumen geprägt sind, einen ständigen Positionsvorteil. Daß dieser Vorteil neben der Genauigkeit und Wirksamkeit der Schläge und Tritte von ausschlaggebender Bedeutung ist, dürfte als unbestritten gelten. Die Wirkung der Schlag- und Tritt-Techniken nun resultiert aus den gleichen bereits beschriebenen Prinzipien, aus denen sich ergibt, daß jede einzelne Bewegung in einem ununterbrochenen Fluß vom gesamten Körper gleichzeitig gesteuert bzw. realisiert wird. Jeder Schlag und jeder Tritt sollten im Ideal die gleichgerichteten Energien sämtlicher beteiligter Körperorgane übertragen können. Wie im Tai Chi Chuan propagiert, befindet sich der Gegner nach Möglichkeit in der Lage, "nach dem Wind zu greifen", wenn er den Praktiker packen will oder "in den Schatten zu schlagen", wenn er ihn zu treffen versucht, wobei er zur gleichen Zeit auf undurchschaubare Weise angegriffen wird, da der angestrebte Fluß der Bewegung keine Unterbrechungen durch Rhythmik oder durch Sammeln von Kraft und Energie kennt. Stets wird die eigene Kraft des Gegners, die für den Tan-Tien-Tschüan-Praktiker durch ihre verschiedenen Schwungräume greifbar wird, gegen ihn gewendet und er wird das Gefühl haben, mit kaum spürbarem Aufwand an Druck oder Kraft sehr wirksam geworfen, gepusht oder mit schmerzhaftester Wirkung geschlagen und getreten zu werden.
Naturgemäß bieten diese kurzen Bilder nur eine ungefähre Idee, aus der heraus das Tan Tien Tschüan zu verstehen wäre. Es ist jedoch auch nicht ihr Zweck, abschließende Erklärungen oder technische Erläuterungen zu liefern. Gleichwohl ist das Tan Tien Tschüan für jeden Menschen, der wirklich daran interessiert ist - allerdings nicht ohne Mühe, Geduld und unablässige Aufmerksamkeit - zu erlernen. Man kann sich vorstellen, daß eine Kampfkunst, deren Aufgabenstellung sich ausschließlich aus der Position des körperlich Schwächeren erklärt, nicht mit einer Handvoll allgemeinverständlicher Rezepte eine eventuelle Selbstverteidigungssituation beantworten wird.
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